Silvia Berutti-Ronelt: Theaterspielen auf dem Bildschirm

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Einen Text von einer Sprache in eine andere zu übertragen, ist für den Übersetzer immer eine Herausforderung, denn er möchte alle Vorzüge des Werkes in die Zielsprache hinüberbringen. Also eine ernste Angelegenheit?
Ja sicher, aber nicht nur, denn diese Challenge macht ja auch Spaß, ganz besonders, wenn es sich dabei um ein Theaterstück handelt! Da hat der Übersetzer nämlich das Vergnügen die verschiedenen Rollen zu spielen. Natürlich nur auf dem Computer, aber immerhin nicht nur eine Rolle wie die Schauspieler, sondern gleich alle!
Und da wörtliche Übersetzungen selbst bei verwandten Sprachen nur selten am besten wiedergeben, was gemeint ist, darf und muss er herumtüfteln.
Natürlich hat er das ganze Stück schon mehrmals gelesen, vielleicht sogar einen Aufführung davon gesehen. Dann erst beginnt die richtige Arbeit: Er schlüpft also in die Rolle der Figur, die gerade spricht, liest aufmerksam, was sie zu sagen hat und stellt sich eine Unmenge Fragen, allen voran:
In welcher Situation befinden wir uns?
In welchem Zustand ist die Figur?
Ist sie wütend, gleichgültig, gut aufgelegt, verzweifelt usw.?
Und wie ist ihre Beziehung, zu der oder den Figuren, mit denen sie gerade spricht? Den Satz der Originalsprache kann man in der Zielsprache auf mehrere Arten wiedergeben. Welche ist für meine Figur in ihrer Situation und Stimmung die beste? Nach einigem Kopfzerbrechen entscheidet sich der Übersetzer und schlüpft vergnügt und zufrieden in die nächste Rolle, die natürlich einen ganz anderen Charakter hat, sodass dieser Rollenwechsel alles andere als langweilig wird. Doch, oje, diese zweite Figur ist offensichtlich sehr aufgebracht über das, was sie gerade gehört hat. Dabei ist der eben übersetzte Satz viel zu harmlos. Also zurück zur ersten Figur, und das Hin- und Herüberlegen geht wieder los. Schließlich soll der Dialog ja lebendig, treffend, spritzig werden!
Lustspielautoren lieben meistens auch Wortspiele, die in den seltensten Fällen in einer anderen Sprache funktionieren und den Übersetzer oft dazu bringen, dass er nach getaner Arbeit ein paar Haarbüschel weniger hat. In diesem Fall muss er etwas ganz anderes finden, das aber dennoch genau zur gegebenen Situation passt, kurz: die Quadratur des Kreises. Manchmal kostet das auch ein paar schlaflose Nächte, aber welche Genugtuung, wenn man dann plötzlich eine Eingebung hat! Übersetzungen lassen sich also nicht aus dem Ärmel schütteln, aber wir ziehen alle Register, um auf einen grünen Zweig zu kommen, denn wir wissen: Das Publikum liebt tolle Schauspieler und einen interessanten Plot, doch im Sprechtheater ist und bleibt der Text die Basis für eine gelungene Aufführung.

Silvia Berutti-Ronelt, Übersetzerin, in Wien geboren, studierte in Brüssel am Institut Supérieur deTraducteurs et Interprètes sowie am Centre Européen de Traduction littéraires. Einige Zeit musste sie sich damit begnügen, Gebrauchsanweisungen für Rasierapparate, Fläschchenwärmer, Traktoren (das verbreitert den Wortschatz ungemein) u.v.a.m. zu übersetzen. Doch seither hat sie an die 30 Theaterstücke aus dem Französischen ins Deutsche und gemeinsam mit französischsprachigen Kollegen ebenso viele von der deutschen in die französische Sprache übersetzt. Gelegentlich arbeitet sie auch als Dramaturgin und unterrichtet am Centre Européen de Traductions Littéraires.

© 2021 Silvia Berutti-Ronelt