Franz Lehár – der Opernkomponist unter den Operettenschöpfern

„Zur Heimat, nein, nie kehr ich zurück. Und ohne Reue ist mein Glück. Jeder liebt auf seine Weise. Ohne Furcht und Reue, so liebe ich.“ Gefühlsbetont begibt sich Zorika („Zigeunerliebe“) in eine fremde Welt, in ihre Traumwelt im wahrsten Sinne des Wortes. Doch gerade in ihren Träumen begegnet sie der Realität.

Lieder formulieren Träume und Träume sind nun einmal ein wesentlicher Bestandteil des Lebens. Gerade Operettenträume sind bezeichnend dafür, wie die Wunschträume des Zuschauers mit dem Bewusstsein für die Realität in Verbindung stehen. „Gib mir dort vom Himmelszelt alle Sterne dieser Welt.“ Mit jeder Operette bekommt das Publikum zumindest einen jener Sterne gereicht. Der dargebotene Stern besitzt die nötige Leuchtkraft, um den Weg sichtbar zu machen durch manch alltägliche Dunkelheit.

Zu den am hellsten strahlenden Sternen am Komponisten-Himmel zählte zweifelsfrei Franz Lehár. Lehárs vielschichtiges Bühnenwerk umfasst Operetten wie „Die lustige Witwe“, „Das Land des Lächelns“, „Giuditta“, „Der Graf von Luxemburg“, „Der Zarewitsch“, „Paganini“, „Zigeunerliebe“, „Frasquita“, „Eva“, usw.

Franz Lehár bekannte sich Zeit seines Lebens mit der Art und Weise seiner Unterschrift zu seiner ungarischen Herkunft. Wie im Ungarischen traditionell üblich, setzte er seinen Taufnamen „Ferenc“ hinter den Nachnamen. Trotzdem und obwohl er von seinen Eltern bewusst als Ungar erzogen wurde und obwohl er bis zu seinem 12. Lebensjahr auch nur der ungarischen Sprache mächtig war, dennoch ließ er in seinen Operetten den original ungarischen Klängen und Stilelementen keine tragende Rolle zuteilwerden. Bis zum Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie (1918) befasste er sich gar nur ein einziges Mal mit dem ungarischen Kolorit. Die 1910 entstandene „Zigeunerliebe“ war bis zum Ende der Monarchie die einzige Operette Lehárs, in der er seine ungarische Herkunft musikalisch nicht versteckte. Dementsprechend wurde die Operette „Zigeunerliebe“ aber auch von der „Neuen Freien Presse“ (Wien) mit verbalen Knüppeln niedergestreckt. Nach diesem einzigen Versuch, den Zymbal- und Geigenklängen (von der Wiener Presse als „Gefiedel und Gejohle“ diffamiert) eine Existenzberechtigung in der Operette zuzuschreiben, dauerte es bis 1918 (Ende der Monarchie), bis Lehár sich an das nächste Werk mit ungarischem Kolorit heranwagte: „Wo die Lerche singt“.

Somit war Franz Lehár, einer der Mitbegründer der sogenannten Silbernen Operettenära, ein bezeichnendes Beispiel dafür, wie der Lokalpatriotismus, der in Wien vom Publikum, aber vor allem angespitzt durch die Wiener Presse ausging (dasselbe Szenario von vorherrschendem Lokalpatriotismus fand sich übrigens in gleichem Maße auch in Budapest), die Komponisten dieser Operettenära unter Druck setzte. Obgleich Lehár spätestens seit der „Lustigen Witwe“ (1905) zu den Villenbesitzern in Bad Ischl zählte und Dank eines weitverzweigten Netzes an Kanälen, innerhalb dessen die Tantiemen aus aller Welt flossen, keinerlei Existenzsorgen befürchten musste, zeigte er keinen Wagemut, sich gegen die vorherrschende Meinung aufzulehnen. Man erwartete von der Operette die eigenen musikalischen Stilelemente, und nach jeder Premiere wurde von der Presse in penibelster Art und Weise Bilanz gezogen, um die Relation zwischen den österreichischen und ungarischen Klängen herauszustellen und die Verhältnismäßigkeit ebenso akkurat wie kleinkariert zu untersuchen. Franz Lehár (wie übrigens auch Emmerich Kálmán) war sehr wohl bewusst, dass man in Wien ausschließlich mit dem Walzer Karriere machen konnte. So wie sich der Walzer in der Operette positioniert hatte, war es letzten Endes kein Wunder, dass sich Lehár und auch Kálmán selbst als arrivierte Komponisten lange Zeit nicht aus dem musikalischen Inkognito ihrer ungarischen Herkunft heraustrauten.

Nichtsdestotrotz hob sich Franz Lehár ganz entschieden von den anderen Komponisten seiner Zunft ab. Ebenso wie bei den anderen bereitete der Frohsinn seiner beschwingten Melodien einzigartiges Vergnügen. Doch Lehár mochte nie so ganz auf die Wesensmerkmale der Ernsthaftigkeit verzichten. Insbesondere in Operetten wie „Land des Lächelns“, „Paganini“ und „Zarewitsch“, ansatzweise auch bereits in Großteilen der „Zigeunerliebe“, brachte Franz Lehár seine Neigung zum ernsten opernhaften Sujet musikalisch nachhaltig zum Ausdruck und schaffte romantische Bühnenwerke von einprägsamer musikalischer Schönheit. In seiner dritten und letzten Schaffensphase quittierte der Komponist den Dienst am sonst in der Operette gern gesehenen Happy End. Stattdessen bevorzugte Lehár in der Grundstimmung seiner Operetten das pathetische Sentiment, das bis dahin überwiegend in Opern vorherrschte. Er ließ sich dabei in erster Linie von einem Kollegen anspornen und anregen: Giacomo Puccini. Gerade bei „Land des Lächelns“, aber auch bei anderen Werken Lehárs lässt sich der Einfluss Puccinis kaum wegdiskutieren. Franz Lehár und Giacomo Puccini waren eng befreundet und tauschten auch gerne Partituren aus, um sich gegenseitig zu inspirieren.

Man sollte sich nicht der Illusion hingeben, das Genre Operette als „leichte Muse“ zu unterschätzen. Gerade in Lehárs Werken bedarf es ebenso einfühlsamen wie ausdrucksstarken Darstellern. Und vor allem stellt Lehárs Musik hohe musikalische Anforderungen an die Interpreten. Und so darf es nicht verwundern, dass kein Opernsänger, der etwas auf sich hält, darauf verzichtet, „Dein ist mein ganzes Herz“ (Land des Lächelns) stolz und repräsentativ seinem Repertoire hinzuzufügen.

© November 2020, Julie Nezami-Tavi