Harrower, David

David Harrower

wurde 1966 in Edinburgh geboren und lebt in Glasgow. Er studierte Anglistik, Ame­rikanistik und Kunst, arbeitete als Teller­wäscher und setzte sich gegen die Statio­nierung englischer Nuklear-U-Boote in Schottland ein.
Das Engagement um die neue Landverteilung in Schottland führte ihn zu intensiven Forschun­gen bis ins 18. Jahrhun­dert zurück und zur Ar­beit an dem Stückprojekt ‚An Unwalked Land‘. Aus einer Episode die­ses noch unfertigen Stücks entstand MESSER IN HENNEN (KNIVES IN HENS), das Anfang 1995 am Traverse Theatre in Edin­burgh uraufgeführt wurde. Nach einer Tour durch die schottischen Highlands wurde die Produktion im De­zember 1995 ans Bush Theatre in London übernommen.
Die deutsch­sprachige Erstaufführung war im März 1997 in der Ba­racke des Deut­schen Theaters, Berlin. Theater Heute wählte MESSER IN HENNEN zum besten ausländischen Stück des Jahres 1997. Die Berliner Produktion wurde für das Theatertreffen 1998 in Berlin ausgewählt. Es folgen deutschsprachige Produktionen in Bern, Hildesheim, Innsbruck, Köln, Leipzig, Lübeck, Salzburg, Stuttgart, Tübingen.
1996 entstand im Auftrag des National Theatre ein Ju­gendtheater­stück, THE CHRYSALIDS, KILL THE OLD, TORTURE THEIR YOUNG schrieb er für das Traverse Theatre. Mittlerweile gehört Harrower zu den bedeutendsten zeitgenössischen Dramatikern.
Sein wohl bekanntestes Stück BLACKBIRD schrieb er 2005 für das Edinburgh International Festival. Dort wurde es in der Regie von Peter Stein uraufgeführt.
BLACKBIRD war nominiert als ‚Buch des Jahres’ 2005 (Scottish Literary Award der ‚Saltire Society‘). Es war ‚Best New Play’ 2006 (Critics Award) und wurde ebenfalls mit dem ‚Laurence Olivier Award’ 2007 ausgeszeichnet.

Guardian Interview July 2002:

When and where did your career in theatre start?
Traverse Theatre, Edinburgh. Morning after the first night of Knives in Hens, 1995
What are you currently working on, and what plans do you have for the rest of the year?
Right now, a version of Chekhov`s Ivanov for the National Theatre, to be directed by Katie Mitchell. Later, rewrites of a new play, Dark Earth, for the Traverse, and a version of Hedda Gabler for Liverpool Playhouse.
What do you consider your greatest achievement in theatre so far?
It’s not an achievement as such, but I’ve had the opportunity through my writing to travel abroad and meet other theatre writers, and learn and admire their processes and commitment; their voices and the language they use; their intent – even in the face of neglect and censure. Theatre continues to be a vital place.
What job/project/production have you most enjoyed working on, and why?
Knives in Hens, Traverse Theatre, because it was the first. Because it proved my intuition that I was a playwright. Because the play that was forged in that small room continues to live.
Is this an exciting time for British theatre?
To agree a time is especially ‚exciting‘ is pointless. It’s a word that tells of nothing – probably why it’s ubiquitous in theatre publicity.
What difference, if any, will the wave of changes at theatres across the country (the RSC, the National, West Yorks, the Donmar etc) make?
I live in Scotland. There’s more than enough to deal with here.
How could British theatre be stronger? What would make your work easier/more rewarding?
More money. More patience. More thematic ambition.
· Coming up: A new play, Dark Earth, and a version of Hedda Gabler for Liverpool Playhouse.

Kryptischer Schotte
Porträt David Harrower

Den Schotten wirft man gerne zwei Dinge vor: Sie seien geizig und „dour“, im Sinne von mürrisch, verschlossen, freudlos. Dass er seine Runden im Pub nicht bezahlt, unterstellt David Harrower niemand, aber selbst Mitarbeiter des Traverse in Edinburgh, die ihn seit vielen Jahren kennen, seufzen: „Heute früh hab ich ihn kurz zum Lächeln gebracht, das streiche ich mir im Kalender an, er ist einfach ein Muffkopf.“ Die Karriere des 1966 in Edinburgh geborenen und heute in Glasgow lebenden Dramatikers prägen große Erfolge und ebenso massive Flops. Für sein Debüt 1995 schrieb er mit „Messer in Hennen“ ein so archaisches wie poetisches Kammerspiel über einen Pflüger, dessen Frau und einen Müller. Die Entwicklung der Landarbeiterin zu einer eloquenten Person mit entsprechendem Selbstvertrauen stellt eine dankbare Herausforderung für jede Schauspielerin dar. Für Petra Hartung in Thomas Ostermeiers Deutschsprachiger Erstaufführung 1997 an der Berliner Baracke war die Junge Frau so etwas wie die Rolle ihres Lebens. Am Ende wird der treulose Pflüger von den beiden anderen umgebracht, der Müller verlässt das Dorf, während die Frau bleibt und verkündet: „Neue Dinge in meinem Kopf. Jedesmal, wenn ich hinschau. Neue Namen. Ich brauch kein woanders.“ Sie hat einen extrem weiten Weg hinter sich, seit sie das Stück mit den dumpfen Worten eröffnete: „Ich bin kein Feld. Wie bin ich ein Feld? Was ist ein Feld? Flach. Nass. Schwarz vom Regen. Ich bin kein Feld.“
Dieser Tonfall war ungewöhnlich im britischen Drama jener Jahre und ließ einen sofort aufhorchen. Ostermeiers bildkräftige Inszenierung kam 1998 zum Theatertreffen, zusammen mit seiner Interpretation von Mark Ravenhills „Shoppen & Ficken“. Wegen des Titels wurde Harrowers Text zu Unrecht in die „Blut und Sperma“-Kategorie eingeordnet. Er bezieht sich nämlich auf den Wissensdurst der Frau: „Alles, was ich tun muss, ist Namen hineinstoßen in das, was da ist, so wie ich ein Messer in den Magen einer Henne stoße.“ Harrower selbst verwahrte sich immer gegen die Vereinnahmung als „In-yer-face“-Autor. Dazu sei sein Schreiben viel zu einfühlsam und zurückhaltend. „Messer in Hennen“ war derart geheimnisvoll, dass die Rezensenten mit ihren Vermutungen, wann das Stück angesiedelt sei, gleich um Jahrhunderte auseinander lagen. Es war ein Erfolg in ganz Europa und dürfte noch im Repertoire bleiben, wenn „Shoppen & Ficken“ längst vergessen ist.
Ein derartiger Start kann zur Bürde werden, und Harrower lieferte danach geradezu erschütternd Schwaches. An dem diffusen Stadtpanorama „Tötet die Alten foltert ihre Jungen“ war der Titel noch das Beste. Selbst aus einem Thema wie der Frühzeit der Beatles in Hamburg vermochte er mit „Presence“ keine Funken zu schlagen und wärmte noch dazu abgestandene Deutschland-Klischees auf. Bei „Dark Earth“ räumte er gegenüber dem Daily Telegraph selbst ein: „Dahinter lauert irgendwo eine gute Idee, aber die ging unterwegs verloren“. Kein Wunder, dass er sich zunehmend auf Bearbeitungen zurückzog. In dem auch nicht gerade als Stimmungskanone bekannten Jon Fosse fand der schottische Grantler einen Seelenverwandten. Fosse hatte „Messer in Hennen“ ins Norwegische übersetzt, und Harrower übertrug für Thomas Ostermeiers Produktion 2002 beim Edinburgh Festival Fosses „Das Mädchen auf dem Sofa“. Neben Pirandello und Tschechow interessierten ihn außerdem besonders deutschsprachige Autoren und er erstellte Versionen von „Maria Stuart“, „Woyzeck“, „Geschichten aus dem Wiener Wald“ und „Der gute Mensch von Sezuan“.
Als man kurz davor war, „Messer in Hennen“ für einen Zufallstreffer zu halten, gelang Harrower jedoch 2005 mit „Blackbird“ in Zusammenarbeit mit Peter Stein für das Edinburgh Festival wieder ein überzeugendes eigenes Stück. Dabei hatte sich der Dramatiker erst einmal massiv verzettelt und ein dreiaktiges Monstrum mit 18 Figuren, dem Geist von Marvin Gaye und einem belgischen Kinderchor verfasst. Er kondensierte die Handlung aber auf ein psychologisch hochkomplexes Zweipersonenstück über eine 27jährige Frau, die den Mann ausfindig macht, der Sex mit ihr hatte, als sie erst 12 war, und sie bei einem gemeinsamen Fluchtversuch im Stich ließ. Steins aufwendige Inszenierung transferierte sogar ins Londoner West End, und das Stück wurde schnell auf dem Kontinent nachgespielt, in Deutschland zuerst im Studio der Schaubühne mehrere Nummern kleiner als bei deren früherem Intendanten. Jule Böwe war als Una perfekt besetzt, Thomas Badings Ray, der zum Zeitpunkt des Missbrauchs 40 war und daher im Stück Mitte 50 sein muss, wirkte aber um einige Jahre zu jung. Die Konstellation ging in Zürich mit Mira Bartuschek und Robert Hunger-Bühler besser auf.
Wie bei Harrower nicht anders zu erwarten, setzte er sein nächstes Projekt trotz bester Bedingungen wieder in den Sand. „365“ über betreutes Wohnen für Jugendliche bewies 2007 beim Edinburgh Festival lediglich, dass dokumentarisch recherchierte Stücke dem Autor zwar persönlich Spaß machen, aber keineswegs seine Stärke sind. Darüber vermochten selbst die Songs der Musikerlegende Paul Buchanan von der Band „The Blue Nile“ und diverse choreographische Einlagen in der Inszenierung Vicky Featherstones, der Intendantin des National Theatre of Scotland, nicht hinwegzutäuschen.
Über neue prestigeträchtige Anfragen muss sich Harrower trotzdem nicht sorgen. Nach Ostermeier und Stein fragte mit Luc Bondy ein weiterer hiesiger Starregisseur bei ihm an. Für eine Koproduktion des Londoner Young Vic, der Wiener Festwochen und der Ruhrfestspiele bearbeitete er gerade Schnitzlers „Liebelei“ unter dem Titel „Sweet Nothings“. Bondy hatte bereits im Vorfeld seiner Inszenierung der „Trachinierinnen“ der britischen Tradition Rechnung getragen, statt professionelle Übersetzer Dramatiker zu beauftragen, die sich – oft auf der Grundlage von Rohfassungen – in ihrer „Version“ vom Original stärker entfernen. Das Resultat war 2004 Martin Crimps „Sanft und grausam“. Von „Sweet Nothings“ zeigte Bondy sich ähnlich angetan und sagte der Website theartsdesk.com: „Harrower ist das absolute Gegenteil von mir. Er ist gerne allein. Seine Sprache ist sehr, sehr direkt. Nicht altmodisch, sondern völlig verständlich und gleichzeitig richtig gut bühnentauglich.“ Der Schotte übertrug Schnitzler in ein unmittelbares heutiges Englisch, auf der Strecke bleiben aber so manche Zwischentöne der atmosphärisch dichteren und weniger derben Vorlage. Das historische Ambiente und Berufsbezeichnungen wie Strumpfwirker oder Hutmacherin behielt er genauso bei wie Bondy in seiner detailgenauen Umsetzung, die die englische Presse überwiegend positiv aufnahm. Die Times-Kritik enthielt zudem einen Schreibfehler, der Freud gefallen hätte, und meinte, das Stück heiße im Original „Leibelei“. Dass es jedenfalls mehr ist als die vom Theater angekündigte „Sextragödie des Autors von Eyes Wide Shut“ wird man in diesem Monat in Wien und Recklinghausen erleben können. Und vielleicht verbeugt sich Harrower ja dann sogar mit einem Lächeln.

(Die Deutsche Bühne, Mai 2010)